Ein Bürger des Universums, die Stoa und die AFD

Ein Kommentar und ein offener Brief an Familie Boris Becker 

Liebe Familie Becker, die Anfeindungen, die Ihnen widerfahren sind, habe ich als sehr ekelhaft und widerwärtig empfunden. Ich finde es großartig, dass Sie Ihre Zeit dazu verwenden, der AFD ihre Grenzen aufzuzeigen. Leider hat die große Mehrheit in diesem Land – immerhin über 87,4% keine laute Stimme.

Wir hören immer nur die lauten Rechten der AFD und der anderen extremen Politiker, die in das gleiche Horn blasen. Es könnte einem schon vorkommen, als ob man plötzlich in einem falschen Land leben würde.

Den großen Lärm von den wenigen, die sich die Anständigen, mit Volkes Stimme nennen, schreien lauter und penetranter als wir Leisen. Dieser penetrante Krach ist kaum noch auszuhalten, dem müssen wir Einhalt gebieten.

In meiner Umgebung kann ich keine Zunahme an Fremdenfeindlichkeit sehen, aber ich spüre vielleicht eine seltsame Angst, die auch von Medien und Politik geschürt. Diese Angst ist nicht wirklich definierbar. Insbesondere kommt sie so seltsam dar, da wir doch in einem reichen und sicheren Land leben und unsere Gesellschaft eigentlich glücklich sein müsste.

Es scheinte so, wir hätten dieses rückwärtsgerichtete Denken schon längst überwunden, wären auf einem guten Weg in eine weltoffene Gesellschaft. Ich muss Ihnen  aber in einem Punkt widersprechen: Als ich noch ein Jugendlicher war (Anfang bis Mitte der 80er Jahre), musste ich mich gegen rechte Tendenzen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis erwehren. Als jugendlicher Heißsporn nimmt man gerne jeden Kampf an. Aber in den 2000er Jahren, nach Einführung des Euro und dem Zusammenwachsen der europäischen Gesellschaft, hatte ich das Gefühl, dass wir zu einem weltoffenen Land werden. Wir sogar endlich in einer Zeit leben, in der wir offen und ehrlich miteinander umgehen können.

Doch brodelte es im Untergrund. Es gab immer wieder rassistisch motivierte Straftaten und die NSU mordete unter den Augen des Staates munter vor sich hin. Dahingegen haben Sie vielleicht Recht mit Ihrem Eindruck.

Und dann war da plötzlich Pegida und die AFD wurde in die Länderparlamente und zuletzt auch in den Bundestag gewählt. Mit dem Einzug in die Parlamente scheint eine Mauer des Anstands gefallen zu sein. Ein Vokabular wird gesellschaftsfähig, welches schon lange ausgestorben sein sollte. Diese Worte schleichen immer weiter in unsere Gesellschaft.

Es scheint auch so, als ob unsere Nachbarländer in der EU an einem Virus erkrankt sind, der z.B. Polen, Ungarn & Österreich und noch einige mehr befallen hat. Diese nicht zu fassende Angst, dieses rückständige Einigeln und falsche Patrioismusgehabe – welches am Ende nur zu einem Ergebnis führen kann. Zu Neid, zu Missgunst, zu Krieg! Der lange Frieden in Europa wird plötzlich dahin sein.

Das, was ich Ihnen bis jetzt geschrieben habe, wissen Sie schon längst. Aber trotzdem muss es immer wieder gesagt werden, damit nicht länger unsere Mitbürger in diese Falle laufen und hoffentlich auch viele Andere diesem faschistischen Gedankengut den Rücken zuwenden.

Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit den Ideen der Stoiker, der sogenannten Stoa, und studiere diese Philosophie im Selbststudium. Diese jahrtausendealte Ethiklehre, die im alten Griechenland, ca. 300 vor Christus entstanden ist, zeigt mir eines: dass wir, die wir uns so Stolz als der „moderne Mensch“ bezeichnen, mit genau den gleichen Nöten und Fragen beschäftigen, wie Kaiser Marc Aurel, Epiktet und Seneca. Vielleicht haben sich die Gesellschaftsformen verändert, ganz sicher das soziale Miteinander – aber wenn wir all die Technik wegnehmen, bleibt der Mensch, so wie vor 2300 Jahren mit den gleichen Ängsten, Nöten und Hoffnungen.

Die Instinkte leiten uns zu Beginn unseres Lebens. Diese Instinkte steuern unsere Befriedigung und unsere Bedürfnisse, z.B. die Rücksichtnahme auf die Menschen, die wir täglich um uns haben. Diese Ethik ist praktisch in unserem Bauplan enthalten. Im Laufe der Kindheit nähern wir uns der „Vernunft“ und können viel deutlicher zwischen Gedanken und Handlungen unterscheiden sowie unseren Platz in dieser Welt zu verstehen. Ab diesem Zeitpunkt werden wir von unseren Instinkten unterstützt und lernen durch eine Kombination aus Selbstreflexion und Erfahrung. Wir haben im Laufe des Lebens mit vielen Menschen in verschiedenen Positionen zu tun.

Hierokles empfahl seinen Studenten: fremde Leute als „Bruder“ und „Schwester“ zu bezeichnen. Ältere Personen als „Onkel“ oder „Tante“. Damit bleiben wir immer in Erinnerung daran, dass wir alle miteinander verwandt sind.

Die Stoiker schufen eine Wortschöpfung, die wir auch noch heute nutzen und eine wichtige Rolle in Ihrer Philosophie spielt: Kosmopolitismus.

Kosmopolotismus

Abb1: Kosmopolitismus nach Hierokles: Die stoische Vorstellung vom Kosmopolitismus, wird durch Hierokles durch Kreise dargestellt, welche die Sorge um andere Menschen darstellt. Wir sollen uns darin üben, die Menschen in den äußeren Kreisen in gleicher Weise zu behandeln wie die Menschen aus den inneren Kreisen. 

Kosmopolitismus übersetzt bedeutet: ein Bürger dieser Welt sein. Sokrates drückte es so aus: „Auf die Frage, woher man stamme, dürfe man niemals sagen, man sei Athener oder Korinther, sondern ein Bürger des Universums.“ Und das vor über 2000 Jahren!

Auf unsere Situation übersetzt, könnte man Athener oder Korinther in Ihr Lieblingsbundesland (Niedersachsen) oder Deutschland und den Bürger des Universums in einen Bürger Europas austauschen.

Aber besser noch formuliert:

Wir kämpfen heute immer noch mit den gleichen Problemen wie vor vielen Jahrtausenden. Wir sind gesellschaftlich und emanzipatorisch weiter gekommen und vielleicht in vielen anderen Dingen auch. Nur in dieser kleinlichen Angst vor dem Unbekannten, vor dem Fremden, führen wir uns immer noch auf wie in der Steinzeit. So schaffen wir es nicht auf den Mars.

Eine offene Gesellschaft wird nur durch Bildung gesichert. Einer offenen, humanistischen Bildung, bei der wir lernen, uns Selbst zu erkennen.

So wie Epiktet schrieb: Wissen – besonders Selbsterkenntnis – ist Freiheit.

Wir müssen an einer neuen Ethik arbeiten. Und sicherlich helfen uns da die Philosophen der alten Schule, wie z.B. die Stoiker in der heutigen Zeit sehr. Ich möchte jedem empfehlen, sich mit Epiktet, Seneca und Kaiser Marc Aurel auseinanderzusetzen. Ich kann bestätigen: Es klärt tatsächlich den Geist und plötzlich werden einem die Zusammenhänge seines Lebens klarer.

Liebe Familie Becker, Sie alle sind ein Vorbild des Kosmopolitismus. Für Sie ist die Welt so nah und klein geworden. Dafür habe ich sie oft beneidet, hier sind Sie wirklich ein Vorbild. Für viele andere Dinge dafür habe ich Sie nicht beneidet. So ist es ein gerechter Austausch geblieben.

Ich möchte mich für Ihren Beitrag und Ihren Aufruf bedanken, gegen Rassismus jeder Art aufzustehen und NEIN zu sagen.

In diesem Sinne:

„Auf die Frage, woher Du herkommst, sage niemals Deutschland oder Europa, sondern du bist ein Bürger des Universums!“

Ihr Holger Pangritz, Göttingen, 11.01.2018


Die Informationen in diesem Artikel über die Stoiker habe ich aus folgenden, sehr empfehlenswerten Büchern:

Der tägliche Stoiker von Ryan Holiday. In diesem Buch beschäftigt man sich täglich mit kurzen Zitaten und Kommentaren. Ich führe dazu Tagebuch, mein sogenanntes Stoiker-Tagebuch 2018.

Und ganz besonders auch aus dem Buch:

Die Weisheit der Stoiker, ein philosophischer Leitfaden für stürmische Zeiten von Massimo Pigliucci.

Der Grund meines Artikels ist der Tweed des AFD-Politikers und MDB Jens Meier, in dem er den Sohn von Boris Becker, Noah Becker als „Halbneger“ bezeichnete. Vorausgegangen war ein Interview mit Noah Becker, in dem er über seine Erlebnisse in Berlin sprach und Berlin als „weiße Stadt“ bezeichnete, im Unterschied zu London und anderen Großstädten.

Dies hier ist mein erster Artikel über die Ethik. Sicherlich werde ich auch in Zukunft noch einige Artikel über die Stoiker schreiben und dabei versuchen, unsere heutige Sicht der Dinge mit der Stoa in Bezug zu setzen. Vielleicht gelingt es mir. Auch wenn es nicht gelingt, es wird eine schöne Aufgabe sein auf die ich mich sehr freue.

© Holger Pangritz, Göttingen, 11.01.2018


#theborisbecker #becker

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